40 Meckenheimer erkunden Estland

Erkundung vom 04. 07. - 18. 07. 2009

db 001 20090715 2095a1Die jungen Motorbootführer drücken aufs Gas, liefern sich mit ihren Maschinen ein Wettrennen durch die Welt der kleinen Ostseeinseln vor Estland, dass die Wellen spritzen. Die Freude an dem feuchten Spaß teilen 40 unternehmungslustige Gäste aus Meckenheim.

 

14 Tage lang erkunden sie mit dem Bürgerverein unter Leitung von Hans-Clamor Wellenkamp das kleine Land ganz weit im Nord-Osten mit Grenzen zu Russland und dem EU-Partner Lettland. Auf den Chips ihrer Kameras haben die Meckenheimer heute Bilder von wilden Orchideen, bunten Blütenteppichen und ruhigen Wiesenlandschaften mit den charakteristischen Wacholderbüschen gespeichert. Diese ergänzen die Aufnahmen vom estnischen Festland mit Befestigungsanlagen, Kirchen, Museen, Plätzen und von den Sonnenuntergängen auf der Ostsee bei der Fahrt mit der Superfast-Ferry von Rostock nach Helsinki und weiter in die estnische Hauptstadt Tallinn, die einstige Hansestadt Reval.
Die Insel Vilsandi ist seit 100 Jahren Naturschutzgebiet, und so lohnt sich die Fotoausbeute von der Wanderung. Da Tourismus wenig entwickelt ist, hat das Mittagspicknick auf einem der Gehöfte einen natürlichen Charme, manch einer möchte noch bleiben. Aber es geht über das Wasser zurück zum kleinen Hafen auf Saaremaa, früher Ösel, der größten der 1.520 Inseln vor Estland. Von dort fährt der Bus über rumpeliges Kopfsteinpflaster zum modernen Domizil der 40 Teilnehmer im Hauptort Kuressaare. In modernen Hotels lebt dort nach Abzug der Sowjets die Tradition der Meerschlammbäder wieder auf.
Die Schrecken der Sowjetzeit ab 1944, als Saaremaa Sperrgebiet war und Kritiker gnadenlos deportiert wurden, werden bei den Erläuterungen von Fremdenführerin Marika sehr deutlich. Die Fahrt über die Insel führt – wie auf dem Festland – durch flache Landschaften mit Getreide-, Kartoffel-, Rapsfeldern und vielen Brachflächen, die die Natur sich gerade zurück erobert. Hohe Hecken und aus dicken Steinbrocken aufgeschichtete Trockenmauern strukturieren die Gegend. Die letzte Eiszeit hat der Region einen unerschöpflichen Reichtum an gewaltigen Steinen zu Lande und im Meer beschert.
Leicht modelliert wird das flache Land durch einen Sockel aus Kalkstein, auf dem Teile der Inseln und des Festlands ruhen. Der hebt sich kontinuierlich aus dem Meer, das Land wächst. Mit 1,4 Millionen Einwohnern ist Estland – etwas kleiner als Niedersachsen –nur dünn besiedelt. Und trotz der Vielzahl von Storchennestern muss die Regierung Anstrengungen unternehmen, die Einwohnerzahl stabil zu halten. Der Trend geht vom Land weg in die Städte. Tallin mit seinen 500.000 Einwohnern beherbergt schon jeden dritten Esten.
Und die Hauptstadt wächst weiter. Von der mittelalterlichen Altstadt mit der weitgehend erhaltenen Stadtmauer und ihren malerischen Türmen führt die Exkursion durch weiträumige Villengegenden, oft mit Holzhäusern aus der Zarenzeit, in öde Plattenbausiedlungen aus der Sowjetzeit und moderne Siedlungen, meist in großen Wohnblocks. „Die Plattenbauten waren für junge Paare in der Nachkriegszeit eine Erlösung aus den Teilwohnungen nach russischem Vorbild“, erläutert Reiseführer Volker Röwer. Trotz hoher Mieten und niedrigem Durchschnittseinkommen von umgerechnet 750 Euro hält der Run auf die Hauptstadt an.
Die „singende Revolution“ ist ein Stichwort beim Weg zur großen Sängerwiese mit der überdimensionalen Konzertmuschel, wo beim großen Sängerfest 1988 zum ersten Mal wieder die estnische Nationalhymne erklang: vor 280.000 Menschen.
Zeugen der deutschen Kultur, die das Land über Jahrhunderte geprägt hat, sind in der mittelalterlichen Altstadt die repräsentativen Wohn- und Packhäuser der Kaufleute, vielfach mit Portalumfassungen in gotischem Stil, von Steinmetzen aus Westfalen gemeißelt. Der Wettstreit zwischen weltlicher Macht in der Unterstadt und kirchlicher Macht auf dem Domberg hat Tallinn eine Fülle von repräsentativen Bauten aus dem Mittelalter beschert, die meist gut erhalten sind. So galt die Sankt-Olai-Kirche in der Unterstadt bei ihrer Vollendung im 14. Jahrhundert als „höchstes Gebäude der Welt“. Zu den Blickfängen in der Unterstadt gehören unter anderem das alte Rathaus und die Sankt Nikolaikirche. Von deutschen Kaufleuten im 13. Jahrhundert gegründet ist sie jetzt Museum und beherbergt den Ende des 15. Jahrhunderts entstandenen berühmten Bilderzyklus „Totentanz“ von Bernt Notke. Mit Kerzenlicht und Dudelsackmusik wird in den Restaurants der Altstadt umsatzwirksam das Mittelalter vergegenwärtigt. In der Domkirche aus der Mitte des 13. Jahrhunderts auf dem Domberg schmücken Wappentafeln deutsch-baltischer Geschlechter die Wände. Blickfang auf dem Berg sind die neuere russisch-orthodoxe Alexander-Nevskij-Kathedrale und das Schloss, das jetzt Parlament und Regierung beherbergt. Altstadt und Domberg sind seit 1997 Weltkulturerbe.
Mit Kolga, zu dem einst 40.000 Hektar Land gehörten, Palmse und Sagadi lernen die Meckenheimer einige der herrschaftlichen Niederlassungen der deutsch-baltischen Gutsbesitzer kennen, die auch Zentren der Kultur waren. Sie lagen über das Land verstreut, wie auch die Höfe der bis Mitte des 19. Jahrhunderts leibeigenen Bauern, die auf ihrem Pachtland lebten. Dörfer gab es nicht.
Auf die Bedürfnisse der deutsch-baltischen Oberschicht war auch die Universität Tartu (einst Dorpat) zugeschnitten, an der im 19. Jahrhundert in deutscher Sprache und von deutschen Dozenten unterrichtet wurde. Das führte so weit, dass in den 1920er Jahren zunächst eine eigene estnische Wissenschaftssprache begründet werden musste.
Die Meckenheimer blicken auf eine erlebnisreiche Tour zurück, die sie ins Land der weißen Sommernächte geführt hat. Axel Rebhan war zum ersten Mal dabei: „Das mittelalterliche Tallinn und das Museumsdorf haben mich ebenso beeindruckt wie die abwechslungsreichen Strandlandschaften“, resümiert er. „Ich habe mich keinen Augenblick lang gelangweilt.“ Vera Krause dagegen, die schon oft dabei war, schätzt die Mischung von Natur- und Kulturerlebnis bei den locker organisierten Reisen. „Man lernt viele nette Meckenheimer kennen“, sagt sie. Und ihren Ehemann Jürgen Krause hat beim Gespräch mit den Reiseführern deren nationaler Stolz beeindruckt und ihre Hoffnung auf Europa und den Schutz der NATO.

(Text:Christine Schulze Fotos: Krause/Krüger)

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